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Die jüngere Forschung zur frühmittelalterlichen Medizin hat einen fundamentalen Perspektivwechsel vollzogen. Der Fokus liegt nicht mehr auf der obsoleten Frage, ob nach der Antike überhaupt noch eine „richtige“ Medizin existierte, sondern auf den konkreten sozialen, religiösen und schriftlichen Zusammenhängen, in denen Wissen tradiert und genutzt wurde. Wie die hier ausgewertete Literatur zeigt, lassen sich drei zentrale Perspektiven identifizieren. Erstens erscheint Heilwissen als fester Bestandteil karolingischer und insularer Wissensordnungen, eingebettet in Astronomie und Komputistik. Zweitens wird die Verschränkung von Medizin und Religion nicht als Gegensatz, sondern als Normalform der Deutungspraxis verstanden. Drittens wird die „Praxisnähe“ der Texte neu justiert, indem streng zwischen unmittelbarer Ausführbarkeit („usability“) und situativer Anwendbarkeit („utility“) unterschieden wird.

Merowingische Fundamente: Konkurrenz der Heilautoritäten

Die Neubewertung beginnt bereits vor der karolingischen Reform. James T. Palmer (2023) positioniert die merowingische Medizin im Spannungsfeld zwischen pragmatischer Heilkunst und philosophischer Reflexion („caught between practice and philosophy“) (S. 45). Er argumentiert, dass hagiographische Heilnarrative, die oft das Versagen der Ärzte betonen, den Status professioneller medici paradoxerweise bestätigen (S. 38). In der Konkurrenz um Heilautorität galt die Medizin als gut, der Glaube jedoch als besser (S. 38). Für Gregor von Tours stellten ärztliche Expertise – etwa die seines Archiaters Armentarius – und religiöse Heilung keine getrennten Sphären dar, sondern konkurrierende Modi derselben Autoritätsfrage (S. 38). Zudem verweist Palmer auf die Prognostik. Die Aufnahme medizinischer Lunare in Sammelhandschriften deutet darauf hin, dass die Spannung zwischen rationalisierter Astronomie und divinatorischer Prognostik als prüfungswürdig erachtet wurde (S. 42).

Insulare Wissenswelten: Beda, Theodor und die Vermessung der Zeit

Im angelsächsischen Raum zeigt sich eine ähnliche intellektuelle Durchdringung. Palmer (2025) rekonstruiert Beda Venerabilis als kritischen Nutzer medizinischer Texte. Beda fand Medizin als nichtchristlichen Wissenskörper vor, instrumentalisierte ihn jedoch für exegetische und chronologische Zwecke innerhalb einer christlichen Ordnung (S. 1). Diese Einbettung in die mathematisch-astronomischen Disziplinen der Zeit wird durch die Schule von Canterbury unter Theodor von Tarsus bestätigt. Tobit Loevenich und Immo Warntjes (2021) zeigen, dass Astronomie und Komputistik (arithmetica ecclesiastica) zum Kernbestand der Ausbildung gehörten (S. 31). Theodors Import byzantinischer Algorithmen, etwa zum bissextus (Schaltjahr), belegt einen Wissensraum, in dem astronomische und komputistische Berechnungen die Ordnung von Zeit und Naturphänomenen strukturierten (S. 58). Caroline Batten (2024) ergänzt dies durch den Blick auf die Körperkonzepte. Sie betont, dass medizinische Praxis in Europa in dieser Zeit sowohl von volkssprachigen Traditionen als auch von der Zirkulation spätantiker lateinischer Texte in und zwischen monastischen Zentren geprägt war (S. 1). Insbesondere die altenglischen Bearbeitungen lateinischer Texte (z. B. des Herbarium Complex) zeigen, wie Wissen sprachlich transformiert wurde, um Pflanzen- und Körperwissen als handhabbare Ressource zu organisieren (S. 6).

Karolingische Theorie: Der Körper im Spiegel der Seele

Für die Karolingerzeit fordert Meg Leja (2022) eine radikale Neulektüre der Quellen aus der Logik der Seele-Körper-Relation. Ihr Ansatz setzt nicht bei einer bloßen Bestandsaufnahme von Texten an, sondern bei den theologischen Debatten der correctio-Bewegung (S. 161). Wenn der Körper als integraler Bestandteil der göttlichen Ordnung respektiert werden soll, müssen die medici als „caretakers of those bodies“ fungieren (S. 161). Die Kompilation und Redaktion medizinischer Texte diente dazu, eine normativ akzeptable Gestalt des Arztes zu entwerfen (S. 161). Leja betrachtet Theologie und Medizin als zwei „universalizing discourses“ (S. 18). Eine karolingische Buß- und Selbstsorgekultur ordnete den heterogenen Textbestand stärker als die antike Naturphilosophie allein (S. 18).

Karolingische Praxis: Usability vs. Utility

Einen differenzierten Blick auf die Rezeptliteratur wirft Claire Burridge (2024). Sie warnt vor einer naiven Lesart der Rezepte als Belege für den medizinischen Alltag und führt die Unterscheidung zwischen „usability“ und „utility“ ein (S. 153). Ein Rezept kann in sich schlüssig und machbar sein („usability“), ohne für die konkrete Lebenswelt der Karolinger relevant oder verfügbar gewesen zu sein („utility“) (S. 153). Burridge zieht hierfür auch osteologisches Material als Vergleichshorizont heran (S. 154). Gleichwohl sieht sie Indizien für eine dynamische Praxis dort, wo Kompilationen auf neue Materia medica reagieren und „cutting edge“-Informationen integrieren (S. 149). Solche Einsprengsel belegen zwar nicht zwingend eine alltägliche Nutzung, zeigen aber eine Schreibpraxis, die aktiv mit neuen Wissensbeständen arbeitete.

Expertenkulturen und pharmazeutischer Transfer

Hedwig Röckelein (2024) überträgt das Konzept der Expertenkulturen auf das Frühmittelalter, weist aber auf die soziale Ambivalenz hin (S. 316). Medici verfügten über theoretisches Sonderwissen, wurden aber im 8. und 9. Jahrhundert sozial oft den Unfreien zugerechnet (S. 320). Diese Spannung wird in der Überlieferung greifbar, wo über Quacksalber, Schmeichler und Betrügereien durch Ärzte geklagt wird (S. 325). Röckelein illustriert dies pharmazeutisch am Begriff der ant-emballomena, der in der Dioskurides-Tradition die Möglichkeit der Substitution teurer Drogen durch heimische Alternativen beschreibt – ein frühes Zeugnis ökonomischer und praktischer Anpassung (S. 326).

Hinsichtlich der Materia medica bleibt John M. Riddle (1965) einschlägig, wenngleich seine Thesen differenziert betrachtet werden müssen (S. 186; 197). Der Nachweis östlicher Drogen (wie Ambra oder Kampfer) in Rezepten belegt zunächst nur deren Präsenz in der gelehrten Tradition (S. 190–191; 197). Riddle schlägt jedoch das Modell einer „folk-communication“ vor, in der Handelswege und mündliche Weitergabe parallel zur schriftlichen Gelehrsamkeit existierten, was die materielle Vernetzung des Frühmittelalters unterstreicht (S. 197).

Die Longue Durée: Von Benedikt bis Salerno

Eine Erweiterung des Betrachtungszeitraums auf die gesamte „Epoche der Klostermedizin“ (6. bis 12. Jahrhundert) ermöglicht es, die langfristigen Entwicklungslinien nachzuzeichnen (Niedenthal 2022, S. 95). Entgegen dem populären Narrativ einer kirchenamtlichen Wissenschaftsfeindlichkeit zeigt sich hier die aktive Bewahrung antiken Wissens (Hippokrates, Galen, Dioskurides). Den Ausgangspunkt markieren Benedikt von Nursia und Cassiodor Senator im 6. Jahrhundert, deren Impulse das Kloster als medizinischen Versorgungsort etablierten. Diese Phase fungierte als Brückenzeit, in der das Primat der Seelensorge die medizinische Praxis nicht behinderte. Das Ende dieser Epoche markiert im 12. Jahrhundert der Aufstieg der Schule von Salerno und die Akademisierung der Medizin. In der Rezeptionsgeschichte diffundierte das in den Klöstern gesammelte Erfahrungswissen jedoch weiter, etwa über spätmittelalterliche Werke wie den Gart der Gesundheit, bis in die volksmedizinischen Traditionen der Neuzeit (Kneipp). Dies unterstreicht die nachhaltige kulturelle Prägekraft der monastischen Heilkunde über ihr institutionelles Ende hinaus.

Fazit

Die aktuelle Forschung zeichnet das Bild einer Epoche, in der medizinisches Wissen weder als starrer Kanon noch als primitive Notfallmedizin existierte. Es war vielmehr ein dynamisches Feld, in dem theologische Normierung, intellektuelle Kritik, pragmatische Anpassung und institutionelle Kontinuität ineinandergriffen.

Literaturverzeichnis

Batten, Caroline (2024) Health and the Body in Early Medieval England. Elements in England in the Early Medieval World, Cambridge.

Burridge, Claire (2019) Carolingian Medical Knowledge and Practice. New Approaches to Recipe Literature. Nuncius Series 14, Leiden/Boston.

Burridge, Claire (2024) Carolingian Medical Knowledge and Practice, c.775–900. New Approaches to Recipe Literature. Nuncius Series, Leiden/Boston.

Leja, Meg (2016) The Sacred Art. Medicine in the Carolingian Renaissance. In: Viator 47/2, S. 1–34.

Leja, Meg (2022) Embodying the Soul. Medicine and Religion in Carolingian Europe. The Middle Ages Series, Philadelphia.

Loevenich, Tobit / Warntjes, Immo (2021) Theodore of Tarsus and the Study of Computus at the Canterbury School. In: Anglo-Saxon England 50, S. 29–59.

Niedenthal, Tobias (2022) „Und die Seele ist mächtiger als der Körper...“: Die Epoche der Klostermedizin, ihre Vorläufer und Nachwirkung. In: Ordenskorrespondenz 63 (1), S. 95–102.

Palmer, James T. (2023) Merovingian medicine between practical art and philosophy. In: Traditio, S. 17–45.

Palmer, James T. (2025) Bede’s Medical Books. In: Early Medieval England and its Neighbours, S. 1–19.

Riddle, John M. (1965) The Introduction and Use of Eastern Drugs in the Early Middle Ages. In: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 49/2, S. 185–198.

Röckelein, Hedwig (2024) Expertenkulturen vor den Expertenkulturen? Astronomisches und medizinisches Wissen in der Karolingerzeit.

 

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