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Einleitung

Das schiefe Bild der „Klostermedizin“ ist nicht zufällig entstanden. Es geht auf mehrere Schichten von Deutungen zurück: auf konfessionelle Polemik seit der Reformation, nationale Sinnstiftungen des 19. Jahrhunderts, Fortschrittsgeschichten der Medizingeschichte um 1900 und politisch-moralische Zuspitzungen im 20. Jahrhundert – dazwischen immer wieder die Behauptung, die katholische Kirche habe Medizin und Naturwissenschaft grundsätzlich abgelehnt. Wer heute noch von „tausend Jahren Stillstand“, vom „finsteren Mittelalter“ oder von einer „medizinfeindlichen Kirche“ spricht, greift damit auf genau diese tradierte Schablone zurück.

 

16. Jahrhundert 

Bereits die „Väter der Botanik“ im 16. Jahrhundert arbeiteten daran, das „katholische Mittelalter“ als Gegenbild zur eigenen gelehrten Identität zu markieren. Sie schrieben nicht nur über Pflanzen, sondern immer auch über Konfession und Autorität. Hieronymus Bock, der als lutherischer Pfarrer im säkularisierten Stift Hornbach tätig war und in Predigten wie Satiren die vorreformatorischen Klosterverhältnisse attackierte (Niedenthal/Uehleke/Puchtler 2022), konnte sich im Kapitel zum Mönchspfeffer den Spott über die Mönche nicht verkneifen; der Witz funktioniert nur, weil „Mönch“ und „katholisch“ längst als Projektionsfläche für Lächerlichkeit und Mitleid etabliert sind. Leonhart Fuchs wiederum trennte an der Universität Tübingen scharf zwischen „echter“ antiker Autorität und den arabisch-lateinischen Vermittlungstraditionen, die er pauschal verdächtigte oder möglichst aus dem akademischen Kanon herausdrängen wollte; programmatisch forderte er, die „Araber“ in der medizinischen Lehre überhaupt zu verwerfen und direkt zu den griechischen Quellen zurückzukehren (Fuchs 1555; Siraisi 1987; Pormann/Savage-Smith 2007).

In diesen Kreisen setzte sich die Vorstellung durch, arabische und „papistische“ Autoren hätten die antike Medizin verfälscht: Sie galten als Abschreiber, Verdunkler oder gar als bewusste Entsteller der reinen Lehre von Hippokrates und Galen. Was nicht in dieses Schema passte, wurde übergangen – und damit auch reale fachliche Fortschritte, die in der arabisch-islamischen Medizin und ihrer lateinischen Rezeption tatsächlich stattgefunden hatten, etwa in der Augenheilkunde (Hunayn ibn Ishaq, ʿAlī ibn ʿĪsā), der Gynäkologie und Geburtshilfe (Avicenna, al-Zahrawī; im lateinischen Westen Trota von Salerno bzw. das „Trotula“-Ensemble) oder in Form neuer Überlegungen zum Blutkreislauf (Ibn al-Nafīs und, in der lateinischen Tradition, Michael Servet). Differenziertere Diagnostik von Augenkrankheiten, verbesserte operative Techniken, genauere Beschreibungen weiblicher Anatomie und neue Modelle der Blutzirkulation hätten das Bild der „Zwischenzeit“ deutlich komplizierter gemacht, störten aber die einfache Erzählung von der verfälschten Antike (Siraisi 1987; Pormann/Savage-Smith 2007; Schacht 1957).

Hier beginnt sich zugleich ein weiteres Motiv abzuzeichnen, das später zum Allgemeinplatz wird: die Idee, die katholische Kirche und ihre Gelehrsamkeit hätten Medizin und Naturforschung im Grunde abgelehnt. Was im 16. Jahrhundert noch als gezielte Polemik gegen „Mönchsgelehrte“ und „Arabisten“ daherkommt, verfestigt sich allmählich zur kulturgeschichtlichen Behauptung. Aus einzelnen kirchenrechtlichen Regelungen und innerklösterlichen Konflikten wird rückblickend ein umfassendes Verdikt gegen Heilkunde konstruiert: angeblich habe die Kirche ärztliche Tätigkeit als Eingriff in Gottes Willen denunziert, Sezierungen aus Glaubensgründen verboten und Mönche generell von der Krankenversorgung fernhalten wollen. Dass gerade Klöster Hospitäler unterhielten, medizinische Texte kopierten und studierten und sich in ganz praktischer Krankenpflege engagierten, passte dazu schlecht und wurde entsprechend marginalisiert.

 

19. und frühes 20. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert verschiebt sich der Fokus, doch das Ergebnis bleibt ähnlich verzerrt. Nationalbewegungen in Deutschland, Frankreich und England suchen nach „ursprünglichen“ Wurzeln der eigenen Nation, die man lieber heidnisch als christlich hätte. Die Kirche, insbesondere die römisch-katholische, erscheint nun als Störfaktor, der diese vermeintlich reinen Ursprünge überdeckt oder zerstört habe. Der Rückgriff auf Tacitus’ Germania und die Inszenierung des Nibelungenlieds gehören hierher: Man stilisierte „die Germanen“ zu einem vorchristlichen Idealvolk, wie es paradigmatisch Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie entwarf (Grimm 1835), und überging, dass die Germania im 9. Jahrhundert in einer Abtei wie Fulda überliefert wurde und das Nibelungenlied um 1200 in einem klar christlichen, höchstwahrscheinlich klerikalen Umfeld verschriftlicht worden ist. Ob die zugrunde liegenden Stoffe jemals „rein“ pagan waren, blieb eine offene, oft bewusst ausgeblendete Frage.

Für das Bild der Klostermedizin war diese Konstellation fatal. Klöster wurden nun nicht mehr nur als konfessionell falsche Orte wahrgenommen, sondern auch als Täter gegenüber einem imaginierten „paganen Naturwissen“ des Volkes. Heilpflanzenkunde und Volksheilkunde erschienen wahlweise als Restbestände heidnischer Weisheit oder als von der Kirche unterdrückte weibliche Praxis. Die Kirche lässt sich in dieser Perspektive leicht als monolithischer Block zeichnen, der Medizin und Naturerkenntnis entweder gleichgültig gegenübersteht oder sie aktiv bekämpft. Dass gerade in Klöstern antike und spätantike medizinische Texte abgeschrieben, kommentiert und in neue Kontexte übersetzt wurden – einschließlich vieler Inhalte, die aus arabischen Kompilationen und Kommentaren stammten –, passte schlecht in diese Erzählung und blieb entsprechend lange unterbelichtet.

Parallel dazu etablierten sich populäre Deutungen, die bis heute nachwirken. Wie Rita Voltmer herausgearbeitet hat, trugen Jacob Grimm und Jules Michelet im 19. Jahrhundert mit ihren Deutungen der Hexenverfolgung als blutige Unterdrückung einer vorchristlichen „Volksreligion“ durch die kirchliche Obrigkeit erheblich zu dem populären Bild bei, die Kirche – und besonders die katholische – sei Haupttäterin der Prozesse (Voltmer 2006). Im angelsächsischen Raum griff man solche Bilder bereitwillig auf. Washington Irving popularisierte in seiner Kolumbus-Biographie das Bild spätmittelalterlicher Theologen, die an der Kugelgestalt der Erde zweifelten und den Seefahrer vor dem „Absturz“ am Rand der Welt warnten, während Kolumbus – der Held der Neuzeit – mit seinem Mut und seinem Vertrauen auf Erfahrung und Berechnung das Gegenteil „bewies“ (Irving 1828; Russell 1991). Historisch ist das unbegründet, erzählerisch aber äußerst attraktiv: Hier die dumpfe, kirchlich geprägte Vormoderne, dort der geniale Einzelheld, der sich über Autoritäten hinwegsetzt und den Beginn der Fortschrittserzählung markiert. Dass mittelalterliche Gelehrte sehr wohl mit einer kugelförmigen Erde rechneten, zeigen nicht zuletzt Darstellungen wie der in einer St. Galler Handschrift überlieferte „Notker-Globus“, dessen moderne Nachbildung heute im Stiftsbezirk St. Gallen zu sehen ist. Ein ähnliches Deutungsmuster greift Bertolt Brechts Drama Leben des Galilei auf, das den Konflikt zwischen genialem Forscher und dogmatischer Kirche zum Lehrstück über Wissenschaft, Macht und Verantwortung im 20. Jahrhundert zuspitzt.

Im Fahrwasser des Kulturkampfes und der sich etablierenden Medizingeschichte um 1900 wurden diese Motive in gelehrte Form gegossen. Die Erzählung von den „tausend Jahren Stillstand“ zwischen Antike und Renaissance, prominent vertreten etwa von Julius Pagel (1902), der davon sprach, dass „während eines vollen Jahrtausends und noch darüber hinaus Natur- und Heilkunde einen so gut wie gänzlichen Stillstand, eine Stagnation im schlimmsten Wortsinne erfuhren“, machte aus der Vormoderne ein Durchgangstal, das man möglichst rasch hinter sich lassen möchte. Entsprechend vernichtend fällt sein Urteil über die Produkte der „Mönchsmedizin“ aus, die „Samt und sonders [den] Verfall der Wissenschaften in seiner krassesten Form“ dokumentieren und inhaltlich vielfach als albern und abgeschmackt charakterisiert werden. Die Epoche der Klostermedizin taucht darin, wenn überhaupt, als Kulisse auf: Hospitäler, ein wenig karitative Pflege, etwas Kräuterwissen – aber kein eigener Erkenntnisanspruch. Die Träger des Fortschritts sind in dieser Sichtweise die antiken Autoritäten, dann einige Renaissance-Gestalten und schließlich die moderne Laborwissenschaft.

Gerade in dieser Phase verfestigte sich das Narrativ von der „medizinfeindlichen Kirche“. Einzelne Dekrete, etwa zur Rolle der Mönche in der praktischen Heilkunde oder zur Organisation universitärer Ausbildung, wurden in großflächige Verbote umgedeutet: aus Diskussionen über Zuständigkeiten und Professionalisierung wurde rückblickend ein grundsätzlicher Bann der Kirche gegen Medizin, aus Streitigkeiten zwischen Ärzten, Badern und Ordensleuten eine universale Unterdrückung der Heilkunst durch Rom. In populären Erzählungen vom dramatischen Kampf zwischen Glauben und Wissenschaft fungieren dann Einzelfälle wie die Hinrichtung des Arztes und Theologen Michael Servet 1553 in Genf – der in einem theologischen Traktat Überlegungen zum Lungenkreislauf formuliert hatte – als scheinbarer Beleg, obwohl es im Prozess um seine antitrinitarische Theologie, nicht um seine medizinischen Thesen ging. Dass gleichzeitig bischöfliche Städte Hospitäler trugen, Orden in der Krankenversorgung tätig blieben und die Universitäten als kirchlich geprägte Institutionen medizinische Fakultäten ausbauten, störte diese klare Schwarz-Weiß-Erzählung und fiel daher gerne unter den Tisch.

 

Spätes 20. Jahrhundert und Gegenwart

Diese teleologische Fortschrittserzählung verband sich im 20. Jahrhundert mit weiteren ideologischen Schichten. Nationalsozialistische Deutungen verstärkten den Gegensatz von „germanischem“ Erbe und „romano-katholischer“ oder „orientalischer“ Überformung und trugen dazu bei, Kloster, Scholastik und arabische Gelehrsamkeit als Fremdkörper in einer vermeintlich „artgemäßen“ Tradition zu markieren. Exemplarisch ist Himmlers „Hexen-Sonderauftrag“ mit der sogenannten Hexenkartothek, in der die frühneuzeitlichen Prozesse als Verbrechen der Kirche an einem angeblich „germanischen“ Erbe inszeniert werden sollten (Lorenz/Bauer/Behringer/Schmidt 2000). Die neuere Forschung zur Deutungsgeschichte der Hexenverfolgungen – etwa Rita Voltmers Analyse von Jacob Grimm und den modernen Hexen-Mythen (Voltmer 2006) – zeigt, wie eng solche Bilder mit antikatholischen und völkischen Lesarten verschränkt sind. Nach 1945 verschwanden solche Muster nicht einfach, sondern wurden nur anders akzentuiert. In kirchenkritischen und feministischen Kontexten avancierte die Figur der „Hexe“ zur unterdrückten Heilerin, während Kirche und „Schulmedizin“ als Unterdrücker- und Verfolgerbündnis erscheinen. Für komplexe institutionelle und intellektuelle Verflechtungen blieb in solchen Deutungen wenig Raum.

Für die Klostermedizin ergaben sich daraus zwei gegensätzliche, aber gleichermaßen schiefe Bilder. In der einen Variante ist sie Teil des Problems: klerikal, dogmatisch, mitverantwortlich für Hexenverfolgungen und die Unterdrückung „weiblicher“ Heilkunst, insgesamt eingebettet in eine Kirche, die angeblich jede Form von empirischer Medizin misstrauisch beäugt. In der anderen, seit den 1970er Jahren im Umfeld der modernen Hildegard-Rezeption und des Ratgeber- und Esoterikmarktes verbreiteten Variante, wird „Klosterheilkunde“ romantisiert: als zeitlose, naturverbundene Gegenmedizin zur kalten Apparatemedizin, je nach Bedarf mit Hildegard, „den Mönchen“ oder einer nebulösen „alten Klosterweisheit“ als Marke. In beiden Fällen geht die historische Komplexität verloren: die reale Verbindung zu gelehrter Medizin, zur Rezeption arabischer Autoren, zur Hospitalorganisation, aber auch zu magischen, liturgischen und litaneihaften Praktiken im therapeutischen Alltag.

Dass diese überzeichneten Bilder so lange überlebten, hat auch mit den Medien der Wissensweitergabe zu tun. Schulbücher und Unterrichtsmaterialien haben lange dazu beigetragen, diese Narrative zu stabilisieren; gerade für das Mittelalter sind Schülervorstellungen von einem „dunklen“, rückständigen Zeitalter bis heute gut belegt (Hamann 2021). Das Motiv eines „dunklen“ oder „stillstehenden“ Mittelalters mit einer rund tausendjährigen Lücke erscheint zudem bis heute in populären Darstellungen und insbesondere in der angloamerikanischen Schul- und Allgemeinliteratur, wie etwa Jeffrey Burton Russell für die Schulbuchgeschichte der „Flat-Earth“-Legende gezeigt hat (Russell 1991). Und in deutschsprachigen Dokumentationen tauchen nach wie vor vertraute Versatzstücke auf: Folterkeller, Scheiterhaufen, „geheimes Klosterwissen“, dramatische Konflikte zwischen Glauben und Wissen – alles, was sich gut bebildern lässt, während Bibliothekskataloge, Überlieferungsgeschichten und Rezeptkompilationen kaum eine Chance auf Sendezeit haben.

 

Fazit

Die eigentliche Klostermedizin, verstanden als Geflecht aus Texten, Orten, Personen und Praktiken, verschwindet zwischen diesen Extrembildern. Sie ist weder die heldenhafte Alternative zur modernen Medizin noch deren dunkles Gegenbild, weder der Inbegriff dogmatischer Rückständigkeit noch ein zeitloses Naturheilideal, sondern ein historisch konkretes Phänomen: eingebettet in lateinisch-christliche Gelehrsamkeit, die antike, spätantike und arabische Wissensbestände verarbeitet; verankert in liturgischen und spirituellen Kontexten; zugleich aber in der Alltagsversorgung von Kranken, Armen und Reisenden präsent.

Neuere Überblicksstudien zur Medizin der Merowinger- und Karolingerzeit sowie zur Medizin im Umfeld Bedas und zum frühmittelalterlichen England haben diese Komplexität der vormodernen Medizin- und Wissenslandschaften deutlich herausgearbeitet (Palmer 2023; Palmer 2024; Palmer 2025; Leja 2016; Leja 2022; Burridge 2019; Röckelein 2023; Batten 2024). Für die Wege antiken medizinischen Wissens in den lateinischen Westen hebt Röckelein (2023, S. 46 f.) unter anderem die Übersetzungen aus dem Griechischen in Ravenna (5.–7. Jh.) und deren Weitergabe über Zentren wie Lucca, Verona, Modena und Mailand (7.–9. Jh.) hervor sowie die Rolle Bobbios und der columbanischen Klöster in Alemannien und Nordgallien (7.–8. Jh.), während Rom und Montecassino eher als Zentren geistlicher Literatur profiliert waren (Röckelein 2023).

Gerade diese Forschung macht sichtbar, dass die seit dem 6. Jahrhundert in Klöstern tradierten, aus heutiger Sicht „abgeschmackten“ spätantiken Kompilationen weniger Ausdruck geistiger Ideenarmut als Reaktion auf strukturelle Engpässe waren. Mit dem weitgehenden Verlust des Griechischen im Westen verengte sich der Zugriff auf die antike Medizin auf wenige lateinische Sammelwerke; die Bestände vieler Bibliotheken bestanden aus fragmentarischen Sammlungen, und Schreibstuben mussten mit knappen Ressourcen haushalten. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, kompakte Kompendien wie Pseudo-Apuleius, Marcellus Empiricus oder Cassius Felix immer wieder zu kopieren, während spezialisiertere Literatur verschwand (Palmer 2023; Röckelein 2023).

Hinzu kamen Spannungen zwischen monastischer Lebensform und ärztlicher Profession. Klosterregeln betonten Krankenpflege als Pflicht der caritas, warnten aber gleichzeitig vor einer zu weit gehenden curiositas gegenüber dem Körper und vor einem selbständigen Heilberuf, der mit Reisen, Bezahlung und Prestige verbunden war. Mönchsärzte bewegten sich damit zwischen asketischen Idealen, karitativer Praxis und der Konkurrenz professioneller Ärzte und Bader; Debatten des 9. Jahrhunderts, wie Meg Leja sie rekonstruiert, kreisen genau um diese Grenzziehungen (Leja 2016; Leja 2022).

Schließlich zwingt die materielle und ökologische Situation zur Anpassung. Viele klassische Rezepte setzen Zutaten aus dem mediterranen oder orientalischen Raum voraus, die im poströmischen Gallien oder in England nur schwer zugänglich waren. Klöster experimentierten mit Substitutionen, griffen verstärkt auf heimische Flora zurück und verbanden überlieferte Rezepturen mit lokalen Erfahrungen, eine Dynamik, die sich in den karolingischen Rezeptkompilationen widerspiegelt, die Claire Burridge analysiert (Burridge 2019). Methodisch blieb man zugleich auf einen Mix aus Autorität, Einzelfallbeobachtung und kollektiver Rezeptüberlieferung angewiesen, systematische Sektionen, große klinische Serien oder Labortechnik standen schlicht nicht zur Verfügung.

Dass das Bild bis heute nur langsam geraderückt wird, liegt weniger an der Forschungslage als an der Trägheit kultureller Erzählungen. In der allgemeinen Mittelalterforschung haben sich seit den 1970er Jahren Deutungen durchgesetzt, die die Spätantike und das Frühmittelalter als Transformations- und Verflechtungszonen begreifen; populär verdichtet wurden solche Ansätze in Entwürfen wie The Bright Ages von Matthew Gabriele und David Perry, die die vermeintliche Finsternis durch Geschichten von Vernetztheit und Kontinuität ersetzen (Gabriele/Perry 2021). In der Medizingeschichte schließen Arbeiten zu merowingischer, karolingischer und angelsächsischer Medizin an diese Perspektive an, indem sie Mönchsärzte und Klöster als Akteure in komplexen Wissensnetzwerken, nicht als Bremsklötze einer linearen Fortschrittsgeschichte behandeln.

Fortschrittsmythen, Hexenbilder, nationale Ursprungsfantasien, kirchenkritische Narrative und das bequeme Schema einer „medizinfeindlichen Kirche“ liefern jedoch weiterhin einfache Deutungsangebote, an die neue Medienprodukte anschließen können, ohne sich mit sperrigen Details zu belasten. Wer die Epoche der Klostermedizin historisch verstehen will, muss daher mehrere Schichten gleichzeitig abtragen: die konfessionelle Polemik der Reformationszeit, die nationalen Überhöhungen des 19. Jahrhunderts, die teleologische Medizingeschichtsschreibung um 1900 und die politisch-moralischen Vereinfachungen des 20. Jahrhunderts. Erst dann wird sichtbar, was Klostermedizin historisch tatsächlich war – und warum das Bild so lange so gründlich verzogen blieb.

 

Literatur (Auswahl)

Ältere Deutungen

Bock, Hieronymus: Kreütterbuch. Straßburg 1551.

Fuchs, Leonhart: Institutiones medicinae. Basel 1555.

Irving, Washington: A History of the Life and Voyages of Christopher Columbus. New York 1828.

Grimm, Jacob: Deutsche Mythologie. Göttingen 1835.

Neuburger, Max / Julius Pagel (Hg.): Handbuch der Geschichte der Medizin. Bd. 1. Jena 1902, S. 446, 624.

Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Verschiedene Fassungen 1938–1955.

Neuere Forschung

Schacht, Joseph: Ibn al-Nafis, Servetus and Colombo. In: Al-Andalus 22 (1957), 317–336.

Siraisi, Nancy G.: Avicenna in Renaissance Italy. The Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500. Princeton 1987.

Russell, Jeffrey Burton: Inventing the Flat Earth. Columbus and Modern Historians. New York 1991.

Lorenz, Sönke / Dieter R. Bauer / Wolfgang Behringer / Jürgen Michael Schmidt (Hg.): Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung. Bielefeld 2000.

Voltmer, Rita: Hexenverfolgungen. Vom getrübten Blick auf die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen – Versuch einer Klärung. 2006.

Pormann, Peter E. / Emilie Savage-Smith: Medieval Islamic Medicine. Edinburgh 2007.

Leja, Meg: The Sacred Art: Medicine in the Carolingian Renaissance. Viator 47 (2016), 1–34.

Gabriele, Matthew / David M. Perry: The Bright Ages. A New History of Medieval Europe. New York 2021.

Hamann, Sven: Wir wollen Mittelalter! Didaktisches Potential für den Schulgeschichtsunterricht. In: Sebastian Barsch (Hg.): Geschichtsdidaktische Perspektive auf die ‚Vormoderne‘. Kiel 2021, 17–22.

Leja, Meg: Embodying the Soul. Medicine and Religion in Carolingian Europe. Philadelphia 2022.

Niedenthal, Tobias / Bernhard Uehleke / Florian Puchtler: Mönchspfeffer: Kritische Notizen zur Arzneipflanze des Jahres 2022. Zeitschrift für Phytotherapie 43 (2022), 255–261.

Palmer, James T.: Merovingian Medicine between Practical Art and Philosophy. Traditio 78 (2023), 17–45.

Röckelein, Hedwig: Medizin und Astronomie in der Karolingerzeit. Bibliotheken als Speicher antiken Wissens. Tübingen 2023.

Palmer, James T.: Merovingian Worlds. Cambridge 2024.

Burridge, Claire: Carolingian Medical Knowledge and Practice, c. 775–900. New Approaches to Recipe Literature. Leiden 2024.

Batten, Caroline: Health and the Body in Early Medieval England. Cambridge 2024.

Palmer, James T.: Bede’s medical books. In: Early Medieval England and its Neighbours 51 (2025), e13.

 

 

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