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Konfessionelle Polemik der Frühen Neuzeit

Bereits im 16. Jahrhundert begannen Botaniker und Ärzte, die eigene gelehrte Identität in Abgrenzung zum Mittelalter zu definieren. Hieronymus Bock, lutherischer Pfarrer und Botaniker, nutzte seine Schriften für Kritik an den vorreformatorischen Zuständen. In seinem Kreütterbuch (1551) finden sich beim Mönchspfeffer (Vitex agnus-castus) spöttische Bemerkungen über das Klosterleben (Niedenthal 2022), die beim zeitgenössischen Publikum auf etablierte antiklerikale Ressentiments trafen.

Ähnlich verfuhr Leonhart Fuchs an der Universität Tübingen. Er forderte in seinen Institutiones medicinae (1555) eine Rückkehr zu den „reinen“ griechischen Quellen und eine Abkehr von arabisch-lateinischen Vermittlungstraditionen. In dieser humanistischen Sichtweise galten arabische Autoren und ihre lateinischen Rezipienten als Verfälscher der antiken Lehre von Hippokrates und Galen. Faktische Fortschritte, etwa in der Augenheilkunde oder der Gynäkologie, wurden dabei übergangen, da sie das Narrativ der verfälschten Antike störten. Diese Polemik verfestigte die Vorstellung, die katholische Kirche und ihre Gelehrten hätten Medizin und Naturforschung grundsätzlich abgelehnt. Einzelne kirchenrechtliche Bestimmungen, die Mönchen die Ausübung chirurgischer Tätigkeiten oder eine lukrative ärztliche Praxis untersagten, wurden retrospektiv zu einem generellen kirchlichen Verbot der Heilkunde umgedeutet.

Nationale Mythen und Fortschrittsglaube

Im 19. Jahrhundert verschob sich der Fokus von der Konfession zur Nation. Nationalbewegungen suchten nach „urspünglichen“ Wurzeln, die man bevorzugt in vorchristlicher Zeit verortete. Die Kirche erschien hierbei als Störfaktor, der eine imaginierte „pagane Naturweisheit“ überlagerte oder zerstört habe. Jacob Grimm entwarf in seiner Deutschen Mythologie (1835) ein Bild, in dem christliche Überformung als Verlustgeschichte gedeutet wurde. Heilpflanzenkunde und Volksmedizin galten ihm als mühsam bewahrte Restbestände eines germanischen Urwissens, das von der klerikalen Obrigkeit unterdrückt worden sei. Diese Deutungen, die eine blutige Unterdrückung weiblicher Heilkunde in den frühneuzeitlichen Hexenprozessen konstruierten, wurden von Rita Voltmer dekonstruiert (Voltmer 2006).

Parallel dazu etablierten sich weitere populäre Geschichtsmythen. Die Vorstellung, mittelalterliche Theologen hätten die Kugelgestalt der Erde bestritten, wurde maßgeblich durch Washington Irvings Kolumbus-Biographie (1828) popularisiert. Die tatsächliche Verbreitung dieses Mythos beruht auf der späteren Rezeptionsgeschichte (Russell 1991). Historisch ist er unhaltbar, da die Kugelgestalt in der gelehrten Welt des Mittelalters bekannt war. So dient heute beispielsweise die Existenz des „Notker-Globus“ in St. Gallen als anschauliches Gegenbeispiel. Die strukturelle Ähnlichkeit dieser Fortschrittslegenden prägte Konfliktdarstellungen bis hin zu Bertolt Brechts Leben des Galilei.

Julius Pagel konstatierte 1902 im Handbuch der Geschichte der Medizin für das Mittelalter eine „Stagnation im schlimmsten Wortsinne“. Die literarischen Produkte der „Mönchsmedizin“ dokumentierten für ihn „samt und sonders den Verfall der Wissenschaften in seiner krassesten Form“, inhaltlich seien sie vielfach „albern und abgeschmackt“.

Völkische Vereinnahmung im Nationalsozialismus

Die Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts wurden im Nationalsozialismus radikalisiert. Jacob Grimms Konstruktion einer germanischen Kontinuität, die durch christliche Überformung zerstört worden sei, bot eine Vorlage für die ideologische Instrumentalisierung der Hexenprozesse. Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) deutete die Verfolgungen als Vernichtungskampf einer „artfremden“ Kirche gegen germanisches Erbe. Heinrich Himmler griff diese Linie auf und initiierte 1935 den sogenannten „Hexen-Sonderauftrag“, ein SS-Projekt zur systematischen Erfassung frühneuzeitlicher Prozessakten. Das erklärte Ziel war der Nachweis, die katholische Kirche habe „germanische“ Frauen – Trägerinnen eines vorchristlichen Naturwissens – gezielt ausgerottet (Leszczyńska 2009). Dass die moderne Hexenforschung diese Prämissen längst widerlegt hat, ändert wenig an ihrer populären Nachwirkung (Voltmer 2006).

Romantisierung und Kommerzialisierung

Die Klostermedizin, die im engeren Sinne das Frühmittelalter zwischen der Gründung Monte Cassinos durch Benedikt von Nursia (um 529) und dem Aufstieg der Universitäten (ab dem 12. Jahrhundert) umfasst, erfuhr im späten 20. Jahrhundert eine gegensätzliche Überhöhung (Niedenthal 2019).

Hildegard von Bingen avancierte dabei zur zentralen Projektionsfigur. Die Romantisierung verkennt, dass ein Mythos nicht der Realität entspricht, jedoch einen historischen Wahrheitskern besitzt (Mayer 2018). Hier erscheint das Kloster nicht mehr als Ort dogmatischer Unterdrückung, sondern als Hort eines geheimen Heilwissens, dessen humoralpathologische Grundlage zugunsten des Esoterik- und Ratgebermarktes ignoriert wird. Beide Extreme blenden die historische Komplexität aus.

Historische Realität und Forschungslage

Neuere Studien zur Medizin der Merowinger- und Karolingerzeit zeigen, dass Klöster keine Orte des Stillstands, sondern Zentren der Wissensbewahrung und der Transformation waren. James T. Palmer widerlegt insbesondere die Annahme, die Christianisierung hätte zu einem prinzipiell „medizinfeindlichen Umfeld“ geführt (Palmer 2023). Er betont vielmehr die Kontinuitäten, wobei die Heilkunde, wie auch Astronomie und Kalenderberechnung (Röckelein 2023), als integrierter Bestandteil eines breiten Bildungskanons und als Mittel zur philosophischen Betrachtung der göttlichen Ordnung wahrgenommen wurde (Palmer 2025).

Die pauschal als „abgeschmackt“ abgetanen spätantiken Kompendien wie Pseudo-Apuleius und Marcellus Empiricus waren Hedwig Röckelein zufolge vielmehr eine notwendige Reaktion auf strukturelle Engpässe (Röckelein 2023). Angesichts des weitgehenden Verlusts der griechischen Sprache im Westen und der Tatsache, dass die Bestände in den Büchersammlungen der Klöster oft fragmentarisch waren, war die wiederholte Kopie von kompakten Sammelwerken eine logische Konsequenz zur Sicherung des Wissens.

Die innerklösterlichen Spannungen kreisten vor allem um die ethische Abgrenzung. Meg Leja zufolge ging es in der Karolingerzeit um das Ringen zwischen der christlichen Pflicht zur Krankenpflege (caritas) und einer weltlichen, potenziell gewinnorientierten medizinischen Tätigkeit (curiositas) (Leja 2016; Leja 2022). Die Debatte war somit eine Frage der Professionalisierung und der theologischen Legitimation der Heilkunst als ars sacra.

Die materielle und ökologische Situation zwang zudem zur Anpassung der überlieferten Rezepturen. Da viele klassische Ingredienzen aus dem mediterranen oder orientalischen Raum nördlich der Alpen kaum zugänglich waren, mussten sie substituiert werden. Claire Burridge analysierte, wie Klöster überlieferte Rezepturen pragmatisch mit heimischer Flora verbanden und so lokale Erfahrungen in die Schriften integrierten (Burridge 2024). Das Wissen war somit nicht nur textbasiert, sondern in konkrete Lebenswirklichkeiten eingebettet. Die Forschung betont heute die Vernetztheit und die pragmatischen Leistungen dieser Epoche, fernab der Extreme von „finsterem Mittelalter“ oder esoterischer Verklärung (Gabriele 2021).

Literatur

Burridge, C.: Carolingian Medical Knowledge and Practice, c. 775–900. New Approaches to Recipe Literature. Leiden 2024.

Gabriele, M., Perry, D. M.: The Bright Ages. A New History of Medieval Europe. New York 2021.

Leja, M.: Embodying the Soul. Medicine and Religion in Carolingian Europe. Philadelphia 2022.

Leja, M.: The Sacred Art: Medicine in the Carolingian Renaissance. Viator 47 (2016), 1–34.

Leszczyńska, K.: Hexen und Germanen. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung. Bielefeld 2009.

Mayer, J. G., Niedenthal, T.: Hildegard – ein Mythos? DHZ – Deutsche Heilpraktiker Zeitschrift 4 (2018), 60–63.

Niedenthal, T.: Ein mittelalterliches Multitalent – Hildegard von Bingen (1098–1179). In: Jünger J et al. (Hg.): Heilkunst Reloaded. Berlin 2023, 56–61.

Niedenthal, T.: Klostermedizin: Von Monte Cassino nach Bingen. Spektrum der Wissenschaft (2019), 30–37.

Niedenthal, T., Uehleke, B., Puchtler, E.: Mönchspfeffer: Kritische Notizen zur Arzneipflanze des Jahres 2022. Zeitschrift für Phytotherapie 43 (2022), 255–261.

Palmer, J. T.: Merovingian Medicine between Practical Art and Philosophy. Traditio 78 (2023), 17–45.

Palmer, J. T.: Bede’s medical books. In: Early Medieval England and its Neighbours 51 (2025), e13.

Röckelein, H.: Medizin und Astronomie in der Karolingerzeit. Bibliotheken als Speicher antiken Wissens. Tübingen 2023.

Russell, J. B.: Inventing the Flat Earth. Columbus and Modern Historians. Westport 1991.

Voltmer, R.: Vom getrübten Blick auf die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen – Versuch einer Klärung. Gnostika 11 (2006), 45–58. Online: https://fowid.de/meldung/hexenverfolgungen

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