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Liber III der Vita Hildegards und Medizin

Das letzte Buch der Vita sanctae Hildegardis bietet in 27 Kapiteln Wundererzählungen, in denen reale körperliche und seelische Leiden benannt werden, die Heilung aber ausschließlich durch Gebet, Vision, Reliquienkontakt und Exorzismus geschieht. Die folgende Fallübersicht zeigt, dass der Text damit keine medizinischen Therapien im Sinne von Causae et curae oder Physica überliefert und keinen Beitrag zur Rekonstruktion einer ärztlichen Praxis Hildegards leistet.

 

Fallübersicht

III 1: Eine adlige junge Frau im Konvent leidet an tertianem Fieber (Drei-Tage Fieber), das sich mit den üblichen, im Text nicht näher benannten remedia nicht bessert. Entscheidend wird erst Hildegards Handauflegung mit Segensworten; das Fieber weicht unmittelbar. Aus medizinhistorischer Sicht bleibt die eigentliche Therapie vollständig im Raum der hagiographischen Wundertopik, während mögliche Arzneimittel oder diätetische Maßnahmen unerwähnt bleiben.

III 2: Der Mönch Roricus wird von derselben tertiana geplagt. Wiederum schildert der Text keinen schrittweisen Heilverlauf, keine Aderlässe, keine diätetische Kur, sondern eine abrupte Besserung nach Hildegards Gebet und segnender Geste. Die Heilung dient primär als Beleg der „curationum gratia“ der Heiligen, nicht als Fallvignette medizinischer Therapie.

III 3: Eine Magd des Klosters hat einen auffälligen Tumor am Hals, der von den Umstehenden als ernstes Leiden wahrgenommen wird. Die Vita berichtet weder Diagnoseüberlegungen noch eine konkrete Behandlung im Sinn einer Salbe, eines Pflasters oder eines chirurgischen Eingriffs, sondern lediglich Berührung und Segen durch Hildegard, worauf der Tumor schwindet. Die körperliche Pathologie wird so zum bloßen Träger eines Wunders.

III 4: Ein Schwabe aus Thalfingen kommt nach langer Reise mit generalisierten Schwellungen des ganzen Körpers an den Rupertsberg. Beschrieben wird eine fromme Aufnahme im Kloster, Hildegards persönliche Zuwendung, Berührung und Segenshandlung. Weder Ursachen noch naturkundliche Erklärungsversuche werden erwähnt, und es fehlen alle Elemente einer längerfristigen kurativen Behandlung; der Text konzentriert sich auf die plötzliche Wiederherstellung der „pristina incolumitas“.

III 5: Der sieben Monate alte Simon aus Rüdesheim leidet an heftigen Zuckungen aller Glieder, die gut als frühkindliche Krampfleiden lesbar sind. Anstelle von Beobachtung, Einordnung oder vorsichtiger Prognose setzt der Text ein einziges kausales Moment: die Fürbitte Hildegards und die Heilung „nach Gottes Willen“. Von einer kindermedizinischen Intervention ist keine Rede.

III 6: Ein Mann namens Arnold aus Wackernheim mit so starken Halsschmerzen, dass ihm das Atmen schwerfällt, sendet eine Bitte an Hildegard. Sie segnet aus der Ferne Wasser und lässt es ihm bringen; nach dem Trinken weicht der Schmerz. Auch hier fungiert Wasser nicht als pharmakologisch qualifizierte Arznei, sondern als Träger von Segenskraft; eine differenzierte Therapieentscheidung ist nicht erkennbar.

III 7: Die Tochter der Hazecha aus Bingen ist drei Tage lang stumm und offensichtlich lebensgefährlich erkrankt. Die Mutter erhält von Hildegard nur geweihtes Wasser; nach der Einnahme stellt sich schlagartig Stimme und Kraft der Tochter wieder ein. Der Text verzichtet auf jede nähere Beschreibung von Verlauf, Pflege oder Behandlung und rahmt die Genesung ausschließlich als Erfolg der heiligen Fürbitte.

III 8: Ein junger Mann im selben Ort ringt mit dem Tod. Die Intervention wiederholt das Muster aus Fall 7: von Hildegard gesegnetes Wasser, das dem Kranken gereicht wird, woraufhin er „in extremis agens“ zur Gesundheit zurückkehrt. Eine medizinische Logik – etwa Dosis, Dauer, ergänzende Maßnahmen – wird nicht entwickelt; entscheidend ist allein der Kontakt zur Heiligen.

III 9: Ein Mädchen wird als in „maßloser Liebe“ zu einem Jüngling entbrannt beschrieben, also mit einer Mischung aus moralischer und psychischer Entgleisung. Geheilt wird sie durch Brot von Hildegards Tisch, das als geweihtes Objekt fungiert. Der Text deutet weder eine seelische Therapie im heutigen Sinn an, noch eine naturkundliche Beeinflussung von Körperzuständen; die „Krankheit“ ist primär moralisch codiert und wird sakramental behandelt.

III 10: Eine Frau Sibilla aus Lausanne leidet unter anhaltendem Blutfluss, der in der Kapitelliste ausdrücklich erwähnt wird. Hildegard sendet ihr einen Brief; im Zuge dieser schriftlich vermittelten geistlichen Kommunikation versiegt die Blutung. Aus medizinhistorischer Perspektive ist auffällig, dass bei einem so klassischen gynäkologisch-humoralmedizinischen Problem keinerlei Pflanzen, Diäten oder blutstillende Verfahren genannt werden, sondern der Text allein auf Wort- und Gnadeneffekt setzt.

III 11: Allgemein wird berichtet, dass Partikel von Hildegards Haaren und Kleidungsstücken, die Kranken aufgelegt werden, Heilung bringen. Einzelbeispiel ist die Frau des Bingener Schultheißen, die unter schweren, sich hinziehenden Geburtswehen leidet; nach dem Umgürten mit einem von den Nonnen übersandten Haarzopf wird die Geburt erleichtert. Der Vorgang ist klar als Verwendung von Kontaktreliquien beschrieben, nicht als Einsatz eines medizinischen Instruments oder pharmakologischen Mittels.

III 12: Zwei weitere Frauen mit ähnlichen Beschwerden – langwierige Geburten oder gynäkologische Leiden – werden mit demselben Haarzopf gegürtet und erfahren Befreiung von ihren Schmerzen. Wiederum liegt der Fokus auf der überpersönlichen Wirkkraft des heiligen Körpers, nicht auf individueller Diagnose oder maßgeschneiderter Therapie.

III 13: Zwei vom Wahnsinn befallene Frauen kehren zu klarem Verstand zurück, nachdem sie mit Hildegards Haarzopf gegürtet wurden. Das seelische Leiden erscheint nicht als Gegenstand ärztlicher Beobachtung oder eines therapeutischen Gespräches, sondern als Störzustand, der durch physische Nähe zu reliquienhaft verstandenen Haaren aufgehoben wird.

III 14: Der junge Rudolf aus Ederich wird in einer Nachtvision von Hildegard vor einem feindlichen Überfall gewarnt und entkommt so der Lebensgefahr. Medizinisch ist dieser Fall nur indirekt relevant: Krankheit tritt nicht auf, sondern wird narrativ durch prophetische Intervention verhindert. Der Text schärft hier das Profil Hildegards als Seherin, nicht als Heilerin.

III 15: Ein schwer kranker Ritter liegt im Sterben und erlebt im Traum, wie Hildegard ihm die Hand auflegt; unmittelbar darauf erhebt er sich und ist gesund. Die Vita bietet keine andere Erklärung als diese visionäre Handauflegung. Weder Pflegepraktiken noch ärztliche Maßnahmen werden erwähnt; der Fall dient ausschließlich der Demonstration von Hildegards wunderwirkender Präsenz.

III 16: Ein Priester findet rätselhafte Buchstaben auf der Altardecke und ist über sein eigenes Fehlverhalten erschüttert. Hildegards Deutung dieser Zeichen führt zu seiner Besserung und zum Eintritt ins Kloster. Krankheit tritt hier nur in Form moralisch-seelischer Verirrung auf; statt Therapie im medizinischen Sinn bietet der Text eine exemplarische Bußgeschichte.

III 17: Hildegards Predigtreisen nach Köln, Trier, Metz, Würzburg, Bamberg und in zahlreiche Klöster werden zusammenfassend geschildert. Sie verkündet das Wort Gottes und mahnt zur Umkehr. Ein unmittelbarer Krankheitsbezug fehlt; für die Medizingeschichte ist wichtig, dass ihre Autorität ausdrücklich in der Rolle einer Prophetin und Lehrerin, nicht in der einer praktizierenden Medizinerin präsentiert wird.

III 18: Auf einer Rheinfahrt bei Rüdesheim bringt eine Frau einen blinden Knaben zum Schiff und bittet um Hilfe. Hildegard schöpft Wasser aus dem Fluss, segnet es und benetzt damit die Augen des Kindes; dessen Sehvermögen kehrt zurück. Wasser ist hier reines Medium göttlicher Gnade, nicht als Arznei mit bestimmten Qualitäten charakterisiert; weder Diagnose des Augenleidens noch Behandlung im humoralmedizinischen Raster werden versucht.

III 19: Ein Mann leidet heftig an der „fallenden Sucht“ (Epilepsie). Nach einer segnenden Bekreuzigung durch Hildegard wird er anfallsfrei; als er das wunderbare Geschehen daheim publik macht, kommen zahlreiche andere Epileptiker zu ihr und kehren geheilt zurück. Die Vita nutzt Epilepsie als dankbaren Demonstrationsfall für unmittelbare Wunderheilung, ohne einen Zusammenhang mit damaligen therapeutischen Praktiken herzustellen.

III 20: In einem längeren Komplex beschreibt die Vita eine adlige Frau, die seit Jahren von einem Dämon geplagt ist. Hildegard reflektiert ausführlich die „fumositas“ und Schwärze des Teufels, seine Wirkweise in Körper und Seele, und entwirft ein elaboriertes Szenario der Austreibung, in dem Gebete, Fasten, Almosen und liturgische Riten zusammenwirken. Die Besessenheit ist als geistlich-dämonologisches, nicht als psychiatrisches oder neurologisches Problem gefasst; medizinische Überlegungen treten vollständig zurück hinter die Theologie des Bösen.

III 21: Briefe von Abt und Brüdern der betroffenen Frau an Hildegard werden referiert. Sie bitten um Rat zur Austreibung des Dämonen und betonen ihre eigene Erfolglosigkeit trotz intensiver geistlicher Bemühungen. Hildegards schriftliche Antwort enthält detaillierte liturgische Anweisungen für sieben Priester mit Stäben in der Hand; die gesamte Argumentation bleibt auf der Ebene der Sakrallogik und Exorzismuspraxis, nicht auf der eines Heilverfahrens im medizinischen Sinne.

III 22: Nach sieben Jahren der Bedrängnis wird die besessene Frau schließlich auf den Rupertsberg gebracht. In der Osternacht und am Karsamstag kulminieren die geschilderten geistlichen Bemühungen, bis der unreine Geist unter dramatischen Begleiterscheinungen – inklusive gewaltsamer Ausscheidungen – ausfährt und die Frau an Leib und Seele gesund zurückbleibt. Der Ablauf ist bewusst als Exorzismuswunder inszeniert; eine alternative Deutung als psychosomatischer oder psychiatrischer Heilprozess wird vom Text nicht angedeutet.

III 23: Hildegard selbst berichtet in der Ich-Form von einer schweren, vierzig Tage andauernden Krankheit, die sie in Todesnähe bringt. Die Beschreibung bedient sich meteorologischer Metaphorik („heiße Winde“, „wasserführender Wind“), ohne naturkundliche Diagnostik zu leisten. Eine Wendung zum Besseren tritt ein, als sie – dem göttlichen Auftrag folgend – das Wort Gottes zu bestimmten Klerikern trägt; Linderung und Heilung werden so direkt an prophetischen Gehorsam geknüpft, nicht an irgendeine medizinische Intervention.

III 24: In einer nachfolgenden Vision sieht Hildegard einen wunderbaren Jüngling, der alle Krankheiten und Dämonen von ihr vertreibt. Der Text markiert damit explizit, dass ihre Genesung als Christuswirkung verstanden werden soll. Für eine „Therapiegeschichte“ im engeren Sinn ist dieser Fall nur insofern relevant, als er die Radikalität des geistlich-christologischen Deutungsrahmens vor Augen führt.

III 25: Auf eindringliche Bitte ihres Abtes und der Brüder verfasst Hildegard das Leben des heiligen Disibod, wie es ihr in der Vision gezeigt wurde. Medizinische Aspekte treten hier nicht in Erscheinung; aus medizinhistorischer Sicht ist bedeutsam, dass ihre schriftstellerische Tätigkeit als Gehorsamsleistung und Visionsempfang, nicht als fachliche Autorentätigkeit im Sinn eines „Medizinbuches“ dargestellt wird.

III 26: Die Vita betont, dass Hildegard das „Buch der göttlichen Werke“ und zahlreiche weitere Schriften hinterlassen habe und außerdem fünf Besessene befreite. Die Kombination von Schriftproduktion und Exorzismen schärft ihr Profil als Prophetin und charismatische Heilerin. Ein systematischer medizinischer Diskurs – etwa zu Kräutern, Diäten oder Körperfunktionen – wird wiederum nicht aufgenommen.

III 27: Abschließend schildert die Vita Hildegards „glücklichen Heimgang“ und die Zeichen an ihrem Sterbebett: Lichterscheinungen, Düfte, erste posthume Heilungen an ihrem Grab. Krankheit und Tod erscheinen hier nur als Durchgangsstation in den Heiligkeitsstatus, nicht als Gegenstand ärztlichen Handelns. Die spätere Krankenheilung geschieht über Reliquienkontakt und Anrufung ihres Namens, ohne jede Spur einer konkreten, therapeutisch begründeten Intervention.

In der Zusammenschau zeigt die Fallserie von Liber III, dass körperliche und seelische Leiden zwar detailliert genug benannt werden, um als realistische Krankheitsbilder erkennbar zu sein, die Heilungen selbst aber konsequent durch Gebet, Vision, Kontaktreliquien und Exorzismus getragen werden. Die Vita nutzt Krankheit als Bühne für Heiligkeit; für Hildegards Rolle als „Medizinerin“ im engeren Sinn sind daher Causae et curae und die naturkundlichen Passagen der Physica die entscheidenden Texte, nicht die Mirakel der Vita.

 

Medizinhistorische Einordnung und Konsequenzen

Aus medizinhistorischer Perspektive ist zunächst festzuhalten, dass Liber III in seiner Gesamtkonzeption eindeutig der Gattung der Mirakelbücher verpflichtet ist. Die einzelnen Vignetten folgen einem stabilen erzählerischen Schema: geschildertes Leiden, Zuspitzung der Notlage, Hinwendung zu Hildegard, punktuelle Intervention mit geistlich-symbolischen Mitteln (Segenswort, Wasser, Brot, Haarzopf, Exorzismus), anschließende schlagartige Heilung und abschließende Danksagung. Dieses Schema dient weniger der dokumentierenden Beschreibung von Krankheitsverläufen als der Inszenierung von Heiligkeit und göttlicher Gnade.

Die Fallübersicht macht deutlich, dass selbst dort, wo relativ präzise Krankheitsbegriffe auftauchen – tertiana, „fallende Sucht“, Blutfluss, langwierige Geburtswehen, Wahnsinn –, keine Entfaltung eines naturkundlich-therapeutischen Diskurses erfolgt. Weder werden differenzierende Diagnosen gestellt, noch tauchen Kriterien der Prognostik, der humoralmedizinischen Einordnung oder der Indikationsstellung für bestimmte Medikamente auf. Pflanzen, Drogen, komplexe Rezepturen oder Regimina spielen in Liber III schlicht keine Rolle; das „Heilmittel“ ist die Heilige selbst, sei es in physischer Präsenz, als Vision oder in Form von Reliquienkontakt.

Damit unterscheidet sich Liber III in Struktur und Argumentation grundlegend von Causae et curae und den medizinisch relevanten Teilen der Physica. Dort werden Beschwerden und Krankheiten in ein erklärendes Gefüge von Säften, Temperamenten, Körperregionen und Lebensordnungen gestellt; es werden konkrete Pflanzennamen, Zubereitungsformen, Dosierungsangaben und Kombinationen genannt. Die Vision fungiert in diesen Traktaten als Legitimationshorizont, nicht als Ort des Heilgeschehens selbst. Liber III dagegen verschiebt die Aufmerksamkeit von der Frage nach „richtiger“ Therapie auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Wirkmacht der Heiligen.

Für die Beurteilung von Hildegards Stellung in der Medizingeschichte hat dies mehrere Konsequenzen. Erstens lässt sich aus den Wundergeschichten des dritten Buches keine eigenständige „Heilpraxis“ im Sinne einer alltäglichen ärztlichen Tätigkeit rekonstruieren. Hildegard erscheint hier nicht als praktische Ärztin, die Diagnosen stellt und Arzneien verordnet, sondern als charismatische Fürbitterin, deren körperliche und symbolische Nähe Heilung vermittelt. Zweitens sind die Krankheitsbezeichnungen funktional auf den Beweischarakter des Wunders hin gebaut: je schwerer und aussichtsloser das Leiden, desto eindrucksvoller die Heilung. Drittens bietet Liber III reiches Material für Kult-, Frömmigkeits- und Sozialgeschichte der Kranken, aber nur sehr begrenzt für eine Geschichte der Therapieformen.

Gerade im Blick auf moderne Konstruktionen einer „Hildegard-Medizin“ ist dieser Befund nicht trivial. Die Mirakel des Liber III zeigen, wie Hildegard in ihrer Gemeinschaft und in der regionalen Umgebung als Heilige wahrgenommen und verehrt wurde – sie begründen jedoch keine naturheilkundliche Schule und liefern keine Legitimation für konkrete Rezepttraditionen. Wer sich für Hildegards Beitrag zur vormodernen Medizin interessiert, muss daher streng zwischen dem hagiographischen Zeugnis der Vita und den medizinisch-naturkundlichen Werken unterscheiden. Die Fallanalyse von Liber III schärft diese Grenze und verhindert, dass Wundererzählungen nachträglich in den Rang impliziter ärztlicher Praxis erhoben werden.

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