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Grob gesagt sind medizinische Leitlinien so etwas wie DIN, EN oder ISO in der Industrie. Sie stellen kein geltendes Recht dar, sondern den "Stand der Technik". Entsprechend wichtig sind sie für die ärztliche Praxis, wenn auch keineswegs verpflichtend oder bindend. In Deutschland werden die Leitlinien durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erstellt und in folgende Entwicklungsstufen eingeteilt:
S1: Die Leitlinie wurde von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet.
S2k: Eine formale Konsensfindung hat stattgefunden.
S2e: Eine systematische Evidenz-Recherche hat stattgefunden.
S3: Die Leitlinie hat alle Elemente einer systematischen Entwicklung durchlaufen.

In 40 von insgesamt 128 S3-Leitlinien (Stand: Dezember 2014) wird die Phytotherapie genannt. Laut einer Übersichtsarbeit von Petra Klose et al. (Verweis siehe am Ende des Textes) wären jedoch 55 weitere Leitlinien durchaus möglich. Eine Nennung kann aber auch negativ oder offen ausfallen und so sind von den 204 Nennungen in diesen 40 Leitlinien 139 (und somit mehr als zwei Drittel) negativ oder offen. In 27 Leitlinien wird die Phytotherapie der komplementären oder alternativen Medizin zugeordnet, in den übrigen mehr oder weniger ernsthaft behandelt. Ingesamt genannt werden immerhin über 90 verschiedene Mittel, wobei sich die Art der Empfehlung etwa gleich auf die Prädikate positiv, neutral und negativ verteilt.

In weit weniger als der Hälfte aller 128 Leitlinien wurde die Phytotherapie bei der Erstellung überhaupt in Betracht gezogen. Das Ergebnis: Aktuell wird sie in lediglich 17 Leitlinien wirklich ausdrücklich befürwortet. Welche sind das nun?

Bspw. wird ein Extrakt aus Taeumjowi-Tang zur Therapie der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen empfohlen. Bei Halsschmerzen wird Kamille, Salbei und Pelargonienextrakt genannt, ebenso Irisch Moos, Spitzwegerich, Thymian, Lindenblüten und Nachtkerzenöl. Bei Husten stehen Myrtol, Thymian, Efeu, Isländisch Moos und Echinacinpräparate, bei besonders schwerem Husten wird weiterhin auf Schlafmohn zurückgegriffen. Immer wieder wird aber auch recht undefiniert auf die Phytotherapie verwiesen, etwa "pflanzliche Präparate als Sekretolytika" bei Rhinosinusitis.

Fortschritllich zeigt man sich bei HIV und weiteren chronisch infektiösen Erkrankungen, dort werden Cannabinoide bereits genannt. Begleitend zur Therapie und auch zur Nachsorge bei Brustkrebs wird die Traubensilberkerze empfohlen. Extrakte aus Grüntee spielen neben der Misteltherapie bei Tumorerkrankungen von Magen und Darm eine Rolle. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wird Flohsamen genannt. Beim Reizdarmsyndrom gibt es recht viele Empfehlungen, u. a. Flohsamen, Kamille, Kümmel, Pfefferminze, Süßholz, Weizenkleie, Mariendistel und Melisse. Baldrian wird bei Schlafstörungen positiv erwähnt und Johanniskraut findet sich erwartungsgemäß bei Depressionen. Das war es dann aber auch so ziemlich.

Nun zu den 55 Leitlinien, in denen die Phytotherapie grundsätzlich denkbar wäre:
Darunter fallen relativ schwere und auch spezielle Erkrankungen wie Schlaganfall, das Fibromyalgiesyndrom, Schizophrenie, Epilepsie, aber auch ziemlich klare Fälle wie Psoriasis vulgaris oder Diabetes (inkl. der zahlreichen Folgeerkrankungen).

Beim Blick auf die einzelnen Leitlinien offenbart sich deren Heterogenität. Sie sind bzgl. des verwendeten Datenmaterials nicht genormt, die einzelnen Fachgesellschaften haben eine ziemlich freie Handhabe in der Auswahl der Referenzen und gehen teils auch recht pragmatisch vor. Ein streng wissenschaftlicher Ansatz lässt sich kaum feststellen. So gibt es durchaus auch positive Empfehlungen der Phytotherapie, wo dies durch keine klinischen Studien gestützt wird. In anderen Fällen hingegen wird das Potenzial schlicht ignoriert.

Zum Weiterlesen:
Petra Klose, Karin Kraft, Holger Cramer, Romy Lauche, Gustav Dobos, Jost Langhorst: "Phytotherapie in den medizinischen S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften - eine systematische Übersichtsarbeit." Forschende Komplementärmedizin, Dezember 2014.

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